Mittwoch, 10. Juni 2020

Die Schweiz lässt sich CO2-frei beheizen, man muss nur wollen.

pixabay.ch. Rohrverbund Fernwärme
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Klimaschutz. Die Schweiz lässt sich CO2-frei beheizen. Eine Studie hält den Verzicht auf Öl und Gas bei Gebäuden und Industrie bis 2050 für möglich. Doch dafür braucht es viel höhere Heizöl- und Gaspreise sowie den breiten Einsatz neuer Technologien. Von Jürg Meier
Der wunderschöne Monat Mai hat ­dieses Jahr einen traurigen Rekord gesetzt: Er war der heisseste seit ­Beginn der weltweiten Wetteraufzeichnungen. Wer denkt, dass solche Entwicklungen die Öffentlichkeit in Zeiten der Corona-Pandemie nicht mehr interessieren, täuscht sich. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage der Umweltorganisation Greenpeace sagen gut 80% der Befragten: Wenn der
Staat zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Schäden der Pandemie investiere, solle er das möglichst klimaschonend machen.

Die Schweiz hat sich bereits vor der Corona-Krise ambitionierte Klimaschutzziele gesetzt. Gefordert ist das Land nicht nur im Verkehr, sondern auch in den Sektoren Gebäude und Industrie. Diese sind für einen grossen Teil der Emissionen verantwortlich (siehe Grafik). Senken wir die Emissionen dort nicht, ist die Klimapolitik zum Scheitern verurteilt.
Wärme ohne CO2-Ausstoss
Eine neue, umfassende Studie findet nun eine ermutigende Antwort darauf, wie sich der CO2-Ausstoss in diesen Bereichen stark senken lässt. Der Wärmebedarf im Jahr 2050 «kann durch die verfügbaren Potenziale an erneuerbaren Energiequellen mehr als gedeckt werden», heisst es in der Untersuchung der beiden Beratungsunternehmen TEP Energy und Ecoplan. Entstanden ist sie im Auftrag der Wärmeinitiative Schweiz, eines Zusammenschlusses von Unternehmen, Forschung und Verbänden aus den Bereichen Erneuerbare Energien und Energieeffizienz.
Um die Versorgung mit Wärme klimaneutral zu gestalten, brauche es eine Vielzahl von Ansätzen, sagt Studienleiter Martin Jakob von TEP Energy. «Man kann die Bedürfnisse der Industrie und jene des Einfamilienhausbesitzers nicht über einen Leisten schlagen.» Abgelegene Wohnhäuser benötigen völlig ­andere Technologien als grosse Industrieunternehmen oder historische Ortskerne.
In Zukunft wird keine einzelne Technologie unseren Wärmebedarf zu mehr als 30% decken können. Die Studie setzt auf die unterschiedlichsten Möglichkeiten: Holz aus unseren Wäldern lässt sich in modernen Anlagen effizient verbrennen. Grünabfälle können zur Produktion von Biogas gesammelt werden. Aus Seen, Flüssen, dem Boden und der Luft lässt sich Wärme gewinnen – ja sogar aus unseren 750 Abwasserreinigungsanlagen.
Die Studie zeigt aber auch: Einfach wird das Vorhaben nicht. Heute verbraucht die Schweiz 100 Terawattstunden Energie, um Wärme zu erzeugen, gut 70% davon stammen aus fossilen Quellen. Laut den Studienautoren lässt sich dieser Bedarf durch Effizienzmassnahmen auf 80 bis 90 Terawattstunden sen-
ken – etwa durch die bessere Dämmung von Häusern oder den Einsatz von effizienteren Heizungstechnologien.
Gleichzeitig haben die Autoren ausge­rechnet, wie viele erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, um diesen Bedarf künftig umweltfreundlich zu decken. Das Resultat:
Es sind mehr als 100 Terawattstunden.
Bei dieser Berechnung bezogen sie nur Potenziale ein, die sich aus heutiger Sicht nachhaltig und zu vertretbaren Kosten nutzen lassen (siehe auch Grafik). Zudem wurden der gesamte Gebäudebestand, alle Parzellen und die Siedlungsstruktur der Schweiz im Detail analysiert. So stellten die Autoren sicher, dass sie nirgends erneuerbare Heizungstechnologien empfehlen, die dort gar nicht realisiert werden können.
Trotzdem bleibt die Herausforderung enorm. Um den Wärmesektor klimafreundlich zu gestalten, muss laut der Studie ein grosser Teil des aufgezeigten Potenzials genutzt werden. Die Studie zieht auch die so­genannte mitteltiefe Geothermie als Lösung heran. Diese transportiert Wärme aus einer Tiefe von bis zu 3000 Metern an die Oberfläche. Im Ausland setzen Paris und München zwar stark auf diese Energiequelle. In der Schweiz fehlen Erfahrungen aber noch.
In Städten und Agglomerationen weist die Studie der Fernwärme eine wichtige Rolle zu. Bei dieser werden viele Gebäude an einen einzelnen Verteiler angeschlossen, zum Beispiel an Kehrichtverbrennungsanlagen, an Industrieunternehmen oder Wärmezentralen, die Energie aus Seen, Flüssen, Grundwasser oder der Geothermie nutzen. Hier drängt die Zeit. «Es ist wichtig, dass wir den Ausbau dieser Fernwärmenetze schnell an die Hand nehmen», betont Experte Martin Jakob.
Der Grund: Wenn einzelne Hausbesitzer in dicht bebauten Gebieten eine umweltfreundliche Heizung einbauen, dann tun sie zwar etwas fürs Klima. Nur haben sie dann auch mindestens zwanzig Jahre lang kein Interesse daran, ihr Gebäude an ein neues Fernwärmenetz anzuschliessen.
Martin Jakob rät darum den Städten und Gemeinden, möglichst rasch Gebiete für Fernwärmenetze zu identifizieren und Konzessionen zu vergeben. Muss ein Hausbesitzer seine Heizung auswechseln, bevor er sein Gebäude an ein neues Fernwärmenetz anschliessen kann, können die Gemeinden und Energieversorgungsunternehmen Übergangslösungen anbieten. Man kann zum Beispiel eine Occasionsheizung einbauen oder ein Haus mit
der Heizung des Nachbargebäudes zusammenschliessen.
Um den Umstieg zu schaffen, empfiehlt die Studie eine Reihe von politischen Massnahmen. So soll der Bund die CO2-Abgabe bis ins Jahr 2030 von heute 96 Fr. auf 300 Fr. erhöhen. Damit würde Erdöl laut Martin Jakob im Vergleich zu heute um gut 50 Fr. pro 100 Liter teurer. Das ist ein Plus von etwa 70%. Der Gaspreis würde etwa 3,5 Rp/kWh steigen Das sind rund 35% mehr. Weitere Erhöhungen der CO2-Abgabe sind danach unnötig.
1,5 Milliarden Franken pro Jahr
Viele umweltfreundliche Heiztechnologien sind schon heute günstiger als Gas- oder Ölheizungen, wenn man sie über die gesamte Lebenszeit betrachtet. Laut der Studie wird der Umbau unseres Wärmesystems aber dennoch kosten. Wollen wir die Gebäude zumindest teilweise wärmedämmen, alle Heizungen und möglichst alle Fertigungsprozesse in der Industrie umbauen, braucht das Investitionen: etwa in Hausrenovationen, in Fernwär­menetze, in Speicher und in tiefe Bohrungen für die Wärmegewinnung.
Diese Kosten belaufen sich in der Phase zwischen 2020 und 2050 auf 1,5 Mrd. Fr. pro Jahr. Ein Teil davon fällt bei der Bevölkerung an, ein weiterer bei den Unternehmen.
Im Gegensatz zu anderen Studien sieht die Untersuchung der Wärmeinitiative Schweiz nur einen moderaten Anstieg des Strombedarfs im Winter voraus. Der Verbrauch soll im Vergleich zu heute nur um 5% zunehmen. Das hat verschiedene Gründe: Die Studie setzt nicht ausschliesslich auf Wärmepumpen. Diese haben das Problem, dass sie im Winter Strom benötigen. Moderne Heizanlagen werden immer wirkungsvoller. Gleichzeitig können künftig stromfressende Elektroheizungen und Elektroboiler ersetzt werden.
Aus dem NZZ-E-Paper vom 07.06.2020