Viktor Vasnetsov (1887): Die vier apokalyptischen Reiter
Donnerstag, 15. August 2019
Artikel zuerst erschienen im Journal 21 vom 15.8.2019
Neu ist, dass sich alles beschleunigt: Das Eis schmilzt rascher als gedacht und wenn es die Strahlung nicht mehr reflektiert steigt die CO2-bedingte Erwärmung nochmals um bis 50 Prozent (1). Das Meer erwärmt sich rascher und steigt rascher (2) als vorausgesagt, ebenso die Lufttemperatur. Weiter steigende Treibhausgase sorgen für Beschleunigung der Erwärmung und die fatale Selbstverstärkung durch Methanfreisetzung und Grosswaldbrände hat eben erst begonnen. Wir merken es ja selber: Der Sommer 2019 hat fast 400 Temperaturrekorde gebrochen, September und Oktober waren die wärmsten je gemessenen.
Die vier apokalyptischen Reiter sind: Die Klimaerhitzung (3), die bis hundert mal schneller abläuft, als frühere Erwärmungen. Der Wassermangel (4), der einen Drittel der Menschheit bedroht. Das Artensterben (5) durch Schwund und Vergiftung der Lebensräume. Und nicht zuletzt die Überbevölkerung (6), die Grundursache, die weiter zunimmt. Jeder Faktor kann allein tödlich sein, aber sie wirken zusammen. Zum Beispiel sagt der Direktor des Potsdam Instituts für Klimaforschung Johan Rockström, ein Experte für die Grenzen des Planeten, dass mit 4-5 Grad Temperaturerhöhung bis im Jahr 2100 die Erde kaum eine Milliarde Menschen ernähren könne (7), vielleicht nicht einmal eine halbe Milliarde. Und die übrigen 95 Prozent?
Viele rufen nach Massnahmen, und viele balgen sich mit jenen, die die Probleme leugnen. Aber ist das sinnvoll? Gibt es aus diesem vierfachen Overkill überhaupt noch ein Entrinnen?
Beispielsweise erlebte der Amerikaner Roy Scranton als Soldat im Irakkrieg Schrecken und Staatszerfall. Zurück in den USA dämmerte ihm, dass dieselben Entwicklungen den Industriestaaten bevorstünden. Wie der Soldat das Sterben lernen müsse, müssten im Anthropozän auch wir lernen, zu sterben, und zwar nicht nur als Einzelindividuen, sondern als Kollektiv wie er in seinem Buch «Learning to Die in the Anthropocene» (8) schreibt. Unabhängig von ihm sagen die Franzosen Pablo Servigne und Raphaël Stevens in ihrem Buch «Comment tout peut s'éffondrer- Petit manuel de collapsologie à l'usage des générations présentes» (9) den Kollaps der Zivilisation voraus. Dazu hier ein zusammenfassendes Interview (10). Drei persönliche Erlebnisse bestärken meine Sorge: Ein in den Medien dauerpraesenter prominenter Klimatologe, der öffentlich einen milden, lösungsorientierten Optimismus verbreitet sagte uns vor zwei Jahren in privatem Rahmen, dass er nach wissenschaftlichem Ermessen für die Menschheit keinen Ausweg aus dieser Falle mehr sehe. Und ca. 1973, das heisst kurz nach dem ersten Bericht des Club of Rome, hatte ich einen lebhaften Traum. Ich stand am Rande einer mittelgrossen Kiesgrube, die teils locker renaturiert war. Dort unten zwischen Büschen, in vielleicht zwanzig Metern Distanz war eine kleine Gruppe von nackten ganz grünen Menschen, etwa drei an der Zahl, wohl erwachsen, aber nicht alt. Sie bemerkten mich nicht und sagten zueinander von sich "Wir sind die letzten Menschen". Ich hielt das für einen bedeutungsvollen, einen sog. "grossen" Traum, konnte damit rational nicht viel anfangen und brachte ihn höchstens hypothetisch mit der Umweltsituation in Verbindung. Aber immerhin pflegte C.G.Jung einen Rabbiner zu zitieren, der geschrieben hatte: "Der Traum ist seine Deutung"... Mein Vater, Markus Eduard Fierz (1912-2006), theoretischer Physiker der ersten Stunde, kannte Pauli, Bohr, Heisenberg, Einstein, arbeitete und lehrte in Basel, Princeton, am CERN und an der ETH. Er hatte eine grosse Intuition und war ein Virtuose für sog. Fermi-Schätzungen, d.h. dem Abschätzen von Grössen aus unzureichenden Vorgaben (Die berühmte Fermi-Frage war: "Wieviele Klavierstimmer gibt es in Chicago?"). Im Alter wurde er äusserst besorgt über die Umwelt und sagte einen allgemeinen Ökokollaps ab ca. 2020 voraus: Natürlich könne man das nicht aufs Jahr genau voraussagen. Aber wenn es einmal beginne werde es aus mathematisch-physikalischen Gründen sehr rasch bergab gehen. Nachdem ich sowohl Traum als auch Vater jahrzehnte- und jahrelang nicht verstanden hatte, könnten beide am Ende recht behalten. Aufschlussreich ist Inhalt und Schicksal eines Artikels von Prof. Jem Bendell (11), des Englischen Hochschullehrers für Nachhaltigkeit, der aufgrund einer grossen Literaturübersicht vertritt, dass die Umweltsituation ausser Kontrolle und unumkehrbar sei. Schon im nächsten Jahrzehnt müsse man mit grossen Krisen, ja mit beginnender Auflösung der Zivilisation rechnen. Dieser Artikel wurde von einer Fachzeitschrift nicht akzeptiert, weil er nicht genug wissenschaftliche Literatur zum Zivilisationskollaps zitiere (es gibt fast keine) und weil er die Leserschaft erschrecken könnte.
Bendell, die Schnauze voll von dieser akademischen Korrektheit, veröffentlichte den Artikel im Netz, wo er inzwischen eine halbe Million Mal heruntergeladen und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Dort und in einem Interview kommt er zusammen mit dem Klimatologen Wolfgang Knorr (12) zum Schluss, dass auch die Wissenschaft das Publikum nicht wahrheitsgetreu informiere: z.B. vernachlässigten die Berichte des International Panel on Climate Change (IPCC) die beschleunigte Erderwärmung durch steigende Treibhausgase bzw. durch schwindende Strahlungsreflexion wegen Eisschmelze und seien deshalb durchwegs viel zu optimistisch - die beiden Gelehrten sagen wörtlich: "Science is letting down humanity".
Tatsächlich wird die Katastrophenperspektive überall ausgeblendet: Zwar warnen Wissenschaftler und teils auch Medien seit bald fünfzig Jahren, aber regelmässig nur sektoriell, vorsichtig und objektiv abgewogen. Mal redet einer von schwindenden Gletschern, ein anderer bespricht die Zukunft des Wintersports, einer berichtet über Insektenschwund, noch einer studiert die Bienen, ein anderer das Gift in den Gewässern, weitere warnen vor den Temperaturen in den Städten, andere betrachten Ernteausfälle oder erforschen Migrationsgründe. Sie haben die Teile in der Hand, aber für die Erkenntnis, dass alles zusammen auf eine selbstverstärkende globale Katastrophe herausläuft fehlt leider das geistige Band. Und so fehlt auch der dringend angebrachte Bezug auf unser eigenes Schicksal und jeglicher Alarmismus. Einig sind sie sich nur darin, weitere Forschung und Geld zu fordern. Und das bewilligen die Politiker nur allzu gern, wenn sie nur sonst untätig bleiben können. Haben die Wissenschaftler Angst vor dem eigenen Mut? Fürchten sie Verlust von Kredit und Krediten in der Öffentlichkeit, Verlust der Sendefenster in den Medien, Verlust von Ansehen bei den Kollegen, wenn sie den Klartext redeten, der angebracht wäre und der wehtäte? Die Weigerung, reinen Wein einzuschenken vermeidet zwar Erschrecken und Depression bei den Adressaten, hat aber die fatale Folge, dass diese sich weiter an die Hoffnung des Weiter-So und klammern. Erst Erschrecken und Depression würden den Weg zu radikalem Umdenken schaffen.
Lange war mir ein Rätsel, wie ein zweifellos so gescheiter, beredter und gebildeter Mann wie Herr Nationalrat Köppel behaupten kann, dass sich die Klimawissenschaft irre. Beim Schreiben dieses Texts ist mir etwas eingefallen: In der praktischen Tätigkeit als Arzt habe ich erfahren, dass einem fast immer geglaubt wird, wenn man deutsch, deutlich und direkt sagt, was Sache ist. Könnte es sein, dass Nationalrat Köppel und andere Skeptiker dumpf und ganz richtig spüren, dass etwas mit den IPCC- und anderen Berichten nicht stimmt und dass sie diese deshalb nicht glauben? Ausgeschlossen scheint das nicht.
Die fragmentierte Betrachtungsweise finden wir nicht nur bei Wissenschaftlern, sondern auch bei den Besorgten und Grünen. Diese predigen gutgemeinte Einzelmassnahmen wie Vegetarismus oder Plasticverzicht, verschweigen aber oft, dass das niemals genügt - man will schliesslich die Wähler nicht verschrecken. Nur die Kinder und die Narren sagen die Wahrheit und führen verzweifelte Kreuzzüge...
Alle zusammen blenden die Bevölkerungsfrage aus, aber sowieso werden sie überstimmt von den dumpfen Mehrheiten, die Trump, Bolsonaro und Morrison wählen, jene Politiker, die im Grunde schon das Ende der Zivilisation ankündigen. Dazwischen die "gesunde" Mitte der meinungslosen Konsumbürger, der Medien, welche Tatsachen als Meinungen in Frage stellen und der quallenartigen Politiker, die nach Umfrageergebnissen navigieren. Das Resultat ist eine bewegungsunfähige Masse, die in Wellness narkotisiert auf die Katastrophe wartet, wie die Weihnachtstruthähne auf ihrer Truthahnfarm. Was kommt zeigt schon jetzt der Nahe Osten mit Hitze, Dürre, Hunger, Staatszerfall, Willkürherrschaft, Seuchen, Krieg und Massenmigration. Das wird sich schubweise auf weitere Regionen und bis zu uns ausbreiten. Besonders störanfällig sind komplexe Systeme wie Grossstädte, Grossverteiler, Hochkultur, Geldwert, Banken, Fernverkehr, Altersvorsorge oder Rechtssicherheit. Das Gerede von Menschenrechten und Klimagerechtigkeit wird als Hohn auf der Strecke bleiben. Wir sind in einer suizidalen Kultur mitgefangen und mitgehangen. Dann heisst dies das Ende mancher Nationen, mancher Kulturen, vielerorts der Menschlichkeit, Massensterben von Menschen und grosser Teile der belebten Welt, vielleicht überhaupt das Ende der Menschheit. Manch alter Mensch beschäftigt sich mit seinem individuellen Ende. Im Mittelalter gab es sogar die Kunst des Sterbens (Ars moriendi), welche auf einen guten Tod vorbereiten sollte und auf die vier letzten Dinge - Tod, Gericht, Himmel oder Hölle. Immerhin konnten sich Sterbliche mit Nachfahren trösten, welche ihre Ideale, ihr Können, ihre Kultur und ihre Gene weiterführten. Dem Tod der Zivilisation fehlt dieser Trost. Aber irgendwie müssen wir die Haltung zum Tod des Individuums in eine zum Tod der Zivilisation übersetzen.
Robert Bringhurst and seine Partnerin Jan Zwicky, zwei kanadische Naturwissenschafter, Philosophen und Dichter meinen in ihrem Büchlein "Learning to die - Wisdom in the Age of Climate Crisis" (14), dass, wenn überhaupt, höchstens einige Menschen das sechste Massensterben überleben dürften, nicht überleben werde aber unsere Zivilisation. Und danach werde niemand von Plato, Bach oder Rembrandt wissen.
Bringhurst ist kenntnisreicher Buchautor über Mythen und Kultur der Amerikanischen Ureinwohner (15). Er beschreibt, wie diese sich als Teil einer Natur verstanden, die man nicht dominieren kann. Fremd sei ihnen die abendländische Einstellung, welche die Natur dominieren will, ausgedrückt schon in der Genesis 1:28 "Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht", jene Einstellung also, die eigentlich der Grund für unsere Katastrophe ist. Zwicky fragt, welche moralischen Qualitäten wir am Ende unserer Zivilisation bräuchten. Es seien die Qualitäten, die es seit jeher im Leben gebraucht habe: Erkenntnis und das Wissen, dass diese begrenzt sei, Bescheidenheit, Mut, Selbstkontrolle, Gerechtigkeit, Geduld und Barmherzigkeit. Bescheidenheit brauche es, um das Ego aus dem Weg zu räumen, erst das gebe den Mut, den Tatsachen in die Augen zu blicken. Und Mitleid brauche es für jene, welche den Tatsachen nicht in die Augen blicken könnten. Ohnehin seien die eigenen Handlungen und die der anderen nur Gesten in der Luft, die verschwänden wie Musik. Wie die bisherigen Massensterben werde auch das jetzige irgendein Leben zurücklassen, Leben aus dem anderes entstehen werde. Diese Streiflichter müssen genügen, aber dieses Büchlein zeigt, dass man das ganze Problem auch ganz anders ansehen kann, als mit Abwehr, Panik, Massnahmenkatalogen und erhobenem Zeigefinger, nämlich mit philosophischer Gelassenheit.
Wenn das Lebensende des Individuums unausweichlich ist und nur noch aus Leiden besteht, dessen Sinn schwer einsehbar ist, so stellt sich die Frage der Sterbehilfe, die heute manchmal praktiziert wird. Diese Frage wird sich auch stellen, wenn Gesellschaften in Hunger, Seuchen, Plünderung und gegenseitigem Totschlag zugrunde gehen. Die Idee ist nicht neu, im Endzeitroman "On the Beach" 1957 (16) lässt Nevil Shute die letzten Überlebenden des Atomkrieges sich mit Zyankali umbringen, um diesen Endstadien zu entrinnen.
Es geht auch darum, wie man die letzten Stunden gestaltet: Als die Kinder des von Janusz Korczak geführten Waisenhauses (17) das Warschauer Ghetto verlassen mussten gaukelte er ihnen einen Ausflug aufs Land vor und zog sie so schön wie möglich an. Korczak ging mit, vor dem Zug der zweihundert Kinder spielte ein Bub die Geige, händchenhaltend, geschmückt und singend zogen sie zu den Viehwagen, die sie in Treblinka abladen sollten zur unverzüglichen Vergasung. Le style c'est l'homme. Weiterführende Hinweise und Literatur:
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