1. Ist Kapital in der Schweiz knapp?
Bei Podimusdiskussionen und in den Medien sind es oft die Ökonomen (nur selten Ökonominnen), die ein entschlossenes Vorgehen gegen den Klimawandel ablehnen. Sie leugnen zwar nicht, dass der menschliche Ursachen hat, aber sie finden, die von Klimaaktivisten geforderten Massnahmen seien „zu teuer“ und würden der „Wirtschaft“ schaden. Die Mehrheit im Publikum denkt dann: wenn ein studierter Ökonom das sagt, dann muss es ja wohl stimmen. Aber für solche Bescheidenheit der ökonomischen Laien gibt es keinen Grund. Denn jeder Mensch, der sich in der Welt von heute umgesehen hat, kann leicht erkennen, dass die Prämissen der Ökonomie, die seit gut hundert Jahren an den Universitäten gelehrt wird, heute nicht mehr stimmen.
Das am meisten verkaufte Lehrbuch der Ökonomie, das es jemals gab (Autoren sind die Nobelpreisträger Samuelson und Nodhaus), beginnt so: „Im Kern geht es in der Ökonomie darum, wie die Gesellschaft ihre knappen Ressourcen einsetzt.“ Schon hier wird man stutzig, denn das klingt ja so, als ob die Ressourcen das Eigentum der ganzen Gesellschaft wären. Offensichtlich wird hier von der Struktur der Gesellschaft und den Besitzverhältnissen ganz abgesehen. Natürlich muss die grosse Mehrheit der Menschen mit der Knappheit ihrer Ressourcen rechnen, aber einige wenige sind so reich, dass Knappheit für sie ein Fremdwort ist, und gerade diese treffen die wichtigsten ökonomischen Entscheidungen. Sie investieren zum Beispiel in Immobilien, für die es keine Nachfrage gibt. In der Schweiz gibt es nach Angaben des BfS 63'000 Mietwohnungen, die leer stehen, und 12'000 unbewohnte Eigentumswohnungen (NZZ 25.10.2019), und trotzdem werden immer neue Wohnhäuser gebaut. Die materiellen Ressorcen und das Kapital, mit denen Häuser gebaut werden, sind also nicht kapp, sondern im Überfluss vorhanden. Und weil man bei den Banken keine Zinsen mehr bekommt, wird das überschüssige Kapital in neue Wohnungen investiert, in der Hoffnung, dass sie irgendwann teuer vermietet oder verkauft werden können. Warum wird das viele Geld nicht in Massnahmen zum Klimaschutz investiert?
2. Die Position von Nordhaus
Nordhaus, der eine Autor des oben zitierten Lehrbuchs, hat sich auch mit den möglichen Auswirkungen eines Klimawandels zu beschäftigen. Die Klima-Ökonomie-Modelle, die er vorgeschlagen hat, sollen die durch den Klimawandel verursachten Schäden gegen die Kosten der Vermeidung dieser Schäden abwägen. Wenn man ein Aussterben der Menschheit nicht in Betracht zieht und davon ausgeht, dass der Nutzen aller heute und künftig lebenden Menschen sich zu einem Gesamtnutzen addieren lässt, dann ist es eigentlich klar, dass keine Maßnahme, die künftige katastrophale Wetterereignisse, Hungersnöte und Überschwemmungen verhindert, für unsere Überflussgesellschaft zu teuer sein kann. Aber die meisten Ökonomen sehen das anders. Um Zinsen, die an Sparer, und Profite, die an Investoren fallen, zu rechtfertigen, behaupten sie, der Nutzen von Gütern sei umso kleiner, je später sie konsumiert werden. Wer seinen Konsum aufschiebt und mit dem gesparten Geld Aktien kauft oder sein Sparkonto auffüllt, habe also eine „Belohnung für das Warten“ in Form von Zinsen verdient (Zinstheorie von Böhm-Bawerk).
Nach der gleichen Theorie sollen die künftigen Schäden durch den Klimawandel weniger Gewicht haben als gleichartige Schäden in der Gegenwart. Die künftigen Schäden dürfen also „diskontiert“ werden. Nach dem Prinzip der Diskontierung und bei einer Diskontrate von 3% ist ein Schaden, der in 23 Jahren eintritt, nur halb so groß wie der gleiche Schaden in der Gegenwart. Nordhaus schlägt sogar eine Rate von 4% vor. Er begründet das damit, dass „Kapital knapp ist, dass Gesellschaften wertvolle andere Investitionen tätigen können und dass Klima-Investitionen mit Investitionen in anderen Bereichen konkurrieren müssen“ [1]. Diese Begründung hinkt der Zeit hinterher. Kapital ist heute nicht mehr knapp, und oft wird es in Projekte investiert, die wenig oder keinen Nutzen und auch keinen Profit generieren. Und erst recht bei Negativzinsen hat die Diskontierung von künftigen Klimaschäden überhaupt keinen Sinn mehr.
Dass der Zins keine gerechte „Belohnung für das Warten“ sein kann, wird gerade bei der Frage der kapitalgedeckten Altersrente deutlich. Rentner haben ja viele Bedürfnisse, die sie in der Jugend gar nicht kannten. Wohlhabende Rentensparer wollen sich mit ihrem Alterskapital den Zugang zu komfortablen Seniorenresidenzen und sehr teuren medizini-schen Behandlungen sichern, die gewöhnlich nur in fortgeschrittenem Alter notwendig sind. Wie kann man da von aufgeschobenem Konsum reden und verlangen, dass der Aufschub vergütet werden soll? Man sieht: mit einer psychologischen Zinstheorie nach dem Vorbild von Böhm-Bawerk lässt sich nicht rechtfertigen, dass ein gut verdienender Mittvierziger das Geld, das er heute spart, in 25 Jahren doppelt (bei 3% Zins) oder dreifach (bei 4,5% Zins) zurück bekommt, es sei denn, der Zins würde lediglich die Geldentwertung kompensieren.
Die Position von Nicholas Stern
Halten wir fest: Mit dem Ansatz der Diskontierung werden die künftigen durch den Klima-wandel verursachten Schäden umso kleiner, je höher die Diskontrate angenommen wird. Es hängt also von der angenommenen Diskontrate ab, welche Massnahmen gegen den Klimawandel „wirtschaftlich“ sind und welche nicht. Der britische Ökonom Nicholas Stern löste vor 12 Jahren eine Kontroverse aus, weil er eine sehr tiefe Diskontrate annahm und deshalb für sofortige umfangreiche und teure Massnahmen plädierte [4]. Bei Negativ-zinsen, wie wir sie heute haben, hat die Diskontierung überhaupt keinen Sinn mehr.
Der Stern-Report brachte insofern einen Fortschritt, als er die Ausdehnung der Theorie der Zeitpräferenz vom individuellen Leben auf die Generationenfolge klar ablehnte, weil sie mit ethischen Grundsätzen nicht vereinbar sei. Dann liesse sich die Diskontierung nicht mehr rechtfertigen. Aber diese Konsequenz zieht Stern nicht. Er will zwar jeder künftigen Gene-ration einen gleich hohen Nutzen garantieren wie der gegenwärtigen, aber nur, wenn sie existiert. Deshalb ersetzt er die Zeitpräferenzrate durch eine neue Größe, die eine völlig andere Bedeutung hat. Diese Größe bezieht sich auf die Möglichkeit einer gigantischen Katastrophe, die die ganze Menschheit auslöschen würde. Für die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses nimmt er willkürlich einen Wert an, der zunächst klein erscheint, nämlich 0,1% pro Jahr. Aber das hieße, dass die Menschheit ein äußerst unwahrschein-liches Glück hatte, dass sie die 5'000 Jahre seit der Entstehung der ersten Hochkulturen überlebt hat. Stern glaubt, mit dieser Annahme die Diskontierung auf eine solide ethische Grundlage gestellt zu haben. Er schreibt: „Den Nutzen der künftigen Generationen gering-er zu bewerten, kann ethisch einwandfrei nur begründet werden, wenn die Existenz jener Generationen ungewiss ist“. Aber wenn man genauer hinsieht, dann wird auch dieser An-satz ethisch fragwürdig. Denn auch hierbei will die gegenwärtige Generation einen Vorteil daraus ziehen, dass sie früher da ist. Das Unrecht, das wir den künftigen Generationen antun, wird nun damit entschuldigt, dass die Existenz dieser Generationen nicht hundertprozentig sicher ist.
Auf Kosten-Nutzen-Analyse ganz verzichten
Wenn man nicht die Möglichkeit eines Aussterbens der Menschheit ins Spiel bringen will und langfristig ein Nullwachstum der Wirtschaft anstrebt, dann gibt es keinen Grund mehr für die Diskontierung künftiger klimabedingter Schäden. Dann sind aber die üblichen Methoden der Kosten-Nutzen-Analyse nicht mehr anwendbar. In einer Arbeitsgruppe des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) konnte denn auch in der Frage, ob eine Kosten-Nutzen-Analyse des globalen Klimawandels überhaupt möglich ist, keine Einigung erzielt werden [5]. In der Debatte zeichneten sich drei Hauptlinien ab: die beiden ersten Linien stimmen darin überein, dass sie an der Kosten-Nutzen-Analyse mit Diskon-tierung festhalten. Sie unterscheiden sich aber in der Höhe der angenommenen Diskont-rate. Die dritte Linie geht aus von der Unmöglichkeit einer realistischen Nutzenrechnung für die Zukunft und schlägt vor, zuerst ein langfristiges Klimaziel zu setzen, z. B. die Stabi-lisierung des CO2-Gehaltes der Atmosphäre auf einem bestimmten Niveau, und dann den Weg zu diesem Ziel zu optimieren [6]. Das Abkommen von Paris (2015) hat das Ziel ge-setzt; Begrenzung der Klimaerwärmung auf 1,5 Grad. Jetzt müssen die am besten geeig-neten Massnahmen ergriffen werden, um dieses Ziel zu erreichen, auch wenn es viel kostet.
Quellen:
1 Nordhaus, William D. The Climate Casino. Risk, Uncertainty, and Economics for a Warming World. Yale University Press 2013, p. 188
4 Stern, Nicholas. The Economics of Climate Change. The Stern Review. Cambridge University Press 2007
5 Portney, Paul R. Applicability of Cost-Benefit Analysis to Climate Change. In: Nordhaus, William D. (ed.). Economics and Policy Issues in Climate Change. Washington: Resources for the Future 1998
6 Toth, Ferenc L. Comments. In: Nordhaus, loc. cit., pp. 129-135